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Wünsdorf in Brandenburg: Ein Trip in die verbotene Stadt

40 Kilometer südlich von Berlin wurde einst der Zweite Weltkrieg geplant. Heute liegen in Wünsdorf Trümmer und Erinnerungen, bewacht, aber besuchbar.

Author - Franz Becchi - 19.03.2023


Die Kasernen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengt. Heute brechen sie immer noch zusammen.
(Ivan Markovic für die Berliner Zeitung am Wochenende)


„Das ist kein verlassener Ort“, antwortet Sylvia Rademacher am Telefon, als ich ihr sage, ich wolle einen Artikel über die „Bücher- und Bunkerstadt“ Wünsdorf schreiben.

Der Ort befindet sich etwa 40 Kilometer südlich von Berlin und Frau Rademacher, 59 Jahre alt, ist Geschäftsführerin der Bücherstadt Tourismus GmbH, einem privaten Unternehmen, das sich seit mehr als 25 Jahren mit der Geschichte dieses unglaublichen Ortes befasst. Rademacher ist bereits seit rund 16 Jahren dabei – erst als Bunkerführerin, bis sie 2021 die Geschäftsführung übernahm.

Leitmotiv Krieg

Ich treffe sie schließlich in Wünsdorf, wo zwischen zerstörten Kasernen und raketenähnlichen Bunkern der Bauart „Winkel“ eine 100-jährige militärische Geschichte sichtbar wird. Bis September 1994 waren hier, im Zossener Ortsteil Wünsdorf, noch rund 40.000 russische Soldaten und Offiziere sowie deren Familien stationiert. Davor durchlebte das Areal in nur wenigen Jahrzehnten grundlegende Zeitabschnitte europäischer Geschichte: Vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und den Ersten Weltkrieg bis zur sowjetischen Besetzung. Und so unterschiedlich die Protagonisten auch waren, die sich hier im waldigen Gebiet bewegten – ihr Leitmotiv war immer dasselbe: Krieg.

Wegen der vielen Antiquariate im Ort gilt Wünsdorf als die erste und einzige Bücherstadt Deutschlands, ganz nach walisischem Vorbild. Von Fjodor Dostojewski bis zu Charlotte Link können Leseratten hier stundenlang nach literarischen Schätzen fahnden und die Werke unterschiedlichster Autoren durchstöbern. Bücher, die in der DDR gedruckt wurden, sind leicht an der gelben Farbe der Seiten zu erkennen: ein preiswerteres Papier, das damals verwendet wurde. Ein heute gemütlicher, schöner Ort mit drei Museen und einigen Galerien – der einst allerdings als „Nervenzentrum der Wehrmacht“ bekannt war.


Seit 16 Jahren hütet Sylvia Rademacher die Bücher- und Bunkerstadt in Wünsdorf.
(Ivan Markovic für die Berliner Zeitung am Wochenende)


Die Geschichte des Militärstandortes Zossen-Wünsdorf beginnt zur Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Unter Kaiser Wilhelm II. wurden im Areal ein militärisches Stammlager, ein Truppenübungsplatz und diverse militärische Einrichtungen aufgebaut. Während des Ersten Weltkriegs wurde in Wünsdorf zudem die erste Moschee Deutschlands errichtet, die von 1915 bis 1930 existierte. Sie befand sich im sogenannten Halbmondlager, einem Kriegsgefangenenlager im Ersten Weltkrieg. Die Holzmoschee wurde für islamische Kriegsgefangene gebaut, die man für eigene Zwecke instrumentalisieren und dazu bringen wollte, gegen die Kolonialmächte Russland, Frankreich und Großbritannien zu kämpfen.

Ende der 1930er-Jahre: Die Bunker werden in Wünsdorf erbaut

Nachdem Adolf Hitler 1933 an die Macht gekommen war, wurden in Wünsdorf die ersten Panzereinheiten der Reichswehr untergebracht. Während der nationalsozialistischen Besetzung wurde Wünsdorf zum strategisch wichtigen Punkt der Wehrmacht. Ende der 1930er-Jahre entstanden die Bunkeranlagen mit den Tarnnamen „Maybach I“ und „Maybach II“ sowie die Nachrichtenzentrale „Zeppelin“. Hierhin verlegte im Jahr 1939 das Oberkommando des Heeres der nationalsozialistischen Wehrmacht sein Hauptquartier.


(Ivan Markovic für die Berliner Zeitung am Wochenende)

Etwa 2000 Arbeiter brauchten damals knapp zwei Jahre, um die fortschrittliche militärische Anlage zu errichten, zu der mich Rademacher führt. Für die Schwerstarbeit bekamen die Männer rund 400 Reichsmark im Monat – etwa das Doppelte, was man damals für eine vergleichbare andere Tätigkeit verdiente.

Zur Einordnung: Mit 1000 Reichsmark konnte man sich den Volkswagen-Käfer kaufen, der ab 1938 produziert wurde, und mit knapp 9 Reichsmark ein Fahrrad. „Heute würde man das so nicht mehr hinkriegen“, kommentiert Sylvia Rademacher mit Blick auf die zügige Umsetzung des Baus; eine Schnelligkeit, die nur durch die furchtbaren Arbeitsbedingungen in einem totalitären System erreicht werden könne. Alle vier Monate wurden die Arbeiter damals ausgewechselt, da die Bauarbeiten in ihrer Gesamtheit so gut es ging geheim gehalten werden sollten.

1941: Der in Wünsdorf geplante Deutsch-Sowjetische Krieg beginnt

Dies ist auch der Grund, warum alle Kasernen und Gebäude von außen – und von oben – als einfache Ferienhäuser wahrzunehmen waren. Dabei waren sie ganz und gar nicht so unbedeutend, wie auf den ersten Blick zu vermuten. „Hier wurde der Zweite Weltkrieg geplant und durchgeführt“, erklärt Rademacher. Um das zu erkennen, genügt es, sich den Gebäuden ein wenig zu nähern: Der Stahlbeton, der hier verwendet wurde, ist besonders verstärkt. „Auf einem Quadratzentimeter musste eine Last von 500 Kilogramm liegen können“, so Rademacher.

Dennoch konnten Piloten und Passagiere eines darüber fliegenden Flugzeugs eben nicht erkennen, dass hier der Hauptsitz der Armee des Deutschen Reiches angesiedelt war. Von der unterirdischen Bunkerstadt, von der aus die Kriegskommunikation gesteuert wurde, ganz zu schweigen.

Die Kasernen fallen mittlerweile in sich zusammen und würden von grünem Moos bedeckt werden, wenn sich niemand darum kümmerte. Wir laufen an einem Haufen zerbrochenen Stahlbetons vorbei, als Sylvia Rademacher sagt: „Das ist letztes Jahr kollabiert. Die Woche davor hatte ein Kollege von uns noch darunter den Rasen gemäht.“ Hier zu arbeiten, ist nicht ganz ungefährlich.

„Hier wurde der Plan für das Unternehmen ‚Barbarossa‘ erarbeitet“, erzählt Rademacher weiter und deutet mit dem Finger auf eines der Häuser, das noch einigermaßen aufrecht steht. Auch als „Fall Barbarossa“ bekannt, handelt es sich hierbei um den Decknamen des Angriffskriegs der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 offiziell den Deutsch-Sowjetischen Krieg eröffnete. Dies ist auch ein wesentliches Motiv, dem die Bunkerführungen in Wünsdorf gewidmet sind: Den Gästen soll vermittelt werden, was die Kriege angerichtet haben; sie sollen für ihre Schrecken sensibilisiert werden.

15. März 1945: Der Ort wird durch die 8. amerikanische Luftflotte ausgebombt

Ein paar Gebäude weiter schließt Sylvia Rademacher ein Tor auf und macht so den Weg frei für einen weiteren Teil des Geländes. „Da vorne liegt der Zeppelinbunker“, sagt sie, während sie die Pforte hinter sich wieder schließt. Von dem Bunker aber ist erstmal überhaupt nichts zu sehen, was wohl für eine gelungene Umsetzung des Schutzbaus spricht. Nur einen Wimpernschlag später befinden wir uns vor einer dicken Stahltür, dem Eingang zum Bunker.


Ein Bunker der Bauart „Winkel“. Um ihn herum hat sich die Welt ziemlich verändert.
(Ivan Markovic für die Berliner Zeitung am Wochenende)


Die massive Tür wiegt zweieinhalb Tonnen – ein fester Schub und wir sind drinnen in einem Bunker, der wie eine vollausgerüstete unterirdische Stadt funktionierte. Eine, die auch ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt funktionsfähig blieb. Ihre Eingänge waren zum Teil als Einfamilienhäuser getarnt, die Stahltüren mit Holz verdeckt. Ein Aufzug ermöglichte es, schwere Lasten hinunterzutransportieren.

Heute führt uns nur noch eine 20 Meter lange Betontreppe nach unten, und mit jedem Schritt fühlt es sich an, als näherten wir uns dem Südpol: Schnell fährt hier die Kälte in die Knochen, natürliches Licht gibt es keines. Als der Bunker noch in Betrieb war, hielt eine Heizungsanlage die düsteren Räume warm. Die vielen Rohre, die an den Wänden zu sehen sind, dienten aber nicht nur dem Heizen und der Zufuhr von fließendem Wasser: Der Nachrichtenbunker der Deutschen Reichspost verfügte auch über eines der höchstentwickelten Luftpostsysteme der ganzen Welt.

Anfang des Jahres 1945 wurde die Zeit für die Nationalsozialisten immer knapper. Am Donnerstag, den 15. März 1945, flog die 8. Luftflotte der USA mit mehr als 580 Maschinen über Wünsdorf hinweg und bombte zahlreiche Häuser aus. 120 Menschen starben bei dem Angriff, die meisten davon waren Zivilisten, weil die deutschen Truppen im Bunker Schutz gefunden hatten.

1994: Eine Zugverbindung von Wünsdorf nach Moskau wird eingestellt

Einen Monat später erfolgte der Einmarsch sowjetischer Truppen: Wünsdorf wurde fast kampflos übergeben. Zu diesem Zeitpunkt sollen nur ein paar Soldaten vor Ort gewesen sein. Einer davon, erzählt man sich in Wünsdorf, sei so betrunken gewesen, dass er gar nicht verstand, was um ihn herum geschah. Acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Zossener Ortsteil zum Sitz des Oberkommandos der Gruppe Sowjetischer Streitkräfte in Deutschland. Bis zum Jahr 1994 fuhr von hier aus jeden Tag ein Zug bis nach Moskau.

Mit den Jahren hatte sich „Wjunsdorf“, wie die Russen den Ort nennen, in eine kleine deutsch-sowjetische Stadt verwandelt. Es gab Geschäfte, Kindergärten, Schulen und Sportanlagen. Eine Leninstatue schaut noch heute schüchtern zwischen den kargen Ästen hervor und erinnert an eine Zeit, die heute undenkbar scheint.

Der Zivilgesellschaft war das Betreten des Areals verboten, weswegen Wünsdorf auch als „verbotene Stadt“ bekannt wurde. 1947 wurden dann Bunkeranlagen, Kasernen und Luftschutztürme gesprengt, wie es im Potsdamer Abkommen vorgesehen war. Der Zweck war, den Ort für eine weitere militärische Nutzung unbrauchbar zu machen. Heute ruhen im Areal die Reste der gesprengten Kasernen, da die Struktur der Häuser besonders robust und stabil war.

In den eiskalten Bunkerhallen, in denen ich mittlerweile mit Sylvia Rademacher stehe, bröckelt die Farbe von den Wänden. Größere Schäden aber kann man hier nicht erkennen, abgesehen von einem wenige Meter breiten Loch, das in der Decke eines der Nachrichtenzimmer klafft. Danach geht's wieder nach oben an die frische Luft. Aber irgendwie fühle ich immer noch diese unheimliche Kraft, die schon in den dunklen Bunkerräumen zu spüren war. Dieser Ort ist wie ein Schlag ins Gesicht, der an eine kriegerische Vergangenheit erinnert. Eine, die heute gar nicht mehr so weit entfernt ist, wie es scheint.

⇑ Originalartikel in der Berliner Zeitung

Außerdem:
⇑ YouTube: Bunkeranlagen Maybach I und Zeppelin - Wünsdorf - 11.08.2018

⇑ Die Anlage Maybach I, Führungsstelle des Oberkommando des Heeres bei Zossen:

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