Dichtungen von Emil Hartwig aus den Jahren 1960 - 1969
(Stand 15.09.2017 -23-)

Apparat und Bewußtsein (I)  /   Besteht das Gebirge des Geistes  /   Credo quia absurdum est  /   Die Skala entlang  /   Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben  /   Einsteigen !  /   Francisco Goya  /   Hasard  /   Ich will  /   Ick sülvst !  /   Inwendig in euch da ist Gott  /   „Jedem das Seine!“  /   Komische Liebe !  /   Man sieht das Leben nicht entstehen  /   Morast und Sumpf  /   Müller  /   Natur und Geist  /   Puppenspiel  /   Selbstgenügen  /   Suggestion  /   Unbewußt - bewußt  /   Wir  /   Zu leben heißt:  /  

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Zu leben heißt:

Zu leben heißt: Ganz wach und klar
die Welt der Dinge sehn;
wie alle Welt zu leben und
wie sie zum Grunde gehn.

Denn alles lebt und alles strebt
bis es zum Grunde geht.
Dem Leben schadet Sterben nicht,
weil es ja neu entsteht.

E. Hartwig 1960
(v600000g.txt)

Man sieht das Leben nicht entstehen

Man sieht das Leben nicht entstehen,
man kann auch nicht sein Ende sehen.
Man sieht es nur vorübergehen.
- - - - -
Von allem das Empfindlichste ist Leben,
es wird zerstört durch eine Kleinigkeit
Und Kleinigkeiten fristen auch das Leben,
das Leben lebt von einer Kleinigkeit.

Inzwischen lebt es in sich selbst versunken,
es lebt, man sieht es und es weiß es kaum.
Und immer lebt es in viel tausend Stufen,
und weiß denn auch, wie und warum es lebt.

So haucht Natur das Leben ein und aus,
unmerklich ist es in den kleinsten Wesen:
Empfindung und Gefühl in so viel Formen,
bis es in mancher Form sich selbst erkennt.-

E.Hartwig, 1960(?)
(v600001g.txt)

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Suggestion

Zu schwach, zu klein ist unser Sinn,
drum geben wir uns dem Glauben hin,
dem Glauben an die Gotteskraft,
die alles aus sich selber schafft.

Daß diese Welt schon immer steht
und daher niemals untergeht,
zu einfach ist's um wahr zu sein,
drum glauben wir an Gott allein.

Nachdem wir Gott so schön erfunden,
mit ihm die ganze Welt verbunden,
da lassen wir es gern dabei,
der Schwindler liebt die Schwindelei.

E. Hartwig, August 1960

Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben

"Verdammter Traum
von Zeit und Raum!
Wir sähen alles wie eines an,
doch du, du hinderst uns daran."

Was du als eines möchtest sehn,
nur Zeit und Raum ließ es geschehn
Drum sei gescheit, tu deine Sachen
in Zeit und Raum nur weiter machen."

"Doch soll ich denken auch dabei?" -
"Das Denken steht dir völlig frei.
Läuft alle Welt in einem Kreis,
das Denken, das läuft gleicherweis." -

"Was hilft aus diesem Circulus?" -
"Dir hilft der völlig klare Schluß,
daß alles gänzlich feste steht,
solange es um sich selber dreht.

E. Hartwig, Sept. 1960

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Unbewußt - bewußt

Immer wieder muß man's machen,
daß das Denken wirklich wird
und mit einem hellen Lachen
über das Gewordne irrt.

Wenn das Unbewußte ruhet
seinem Schlaf im tiefsten Schoß,
reißt sich mit dem Schrei des Lebens
Wissen von der Erde los.

Glutend scheint das Herz der Sonne,
Wissen bricht durch Nacht zum Licht,
aber es erreicht die Wonne
schlafenden Bewußtseins nicht.

E. Hartwig, Sept. 1960

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Hasard

Die Rechnung stimmt:
was auch besteht,
ist wert,
daß es zu Grunde geht.

Auch jene stimmt:
Genuß gleich Leben.
Für alles muß man
alles geben.

Wer alles gibt
und geben muß,
gewinnt des Daseins
Hochgenuß.

E. Hartwig, Okt. 1960

Francisco Goya

Dekorationen, wie ich mich freue!
Dekorationen, alte und neue.
Immer im Kreise, laut oder stumm,
dreht sich das Panorama herum.
Automaten, lebende, tote,
stehen zu jedem Zweck zu Gebote.
Dich zu erzeugen, dich zu begraben,
automatisch alles zu haben
Und daraus Himmel und Hölle zu machen, -
Dekorationen, - zum Weinen, zum Lachen.

E. Hartwig 29.3.61

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Apparat und Bewußtsein (I)

Marode sind wir - comme il faut -,
funktionieren sowieso.
Das Uhrwerk tickt,
die Puppe nickt.

Treibt sein Spielchen immer weiter,
heut betrübt und morgen heiter.
Kriecht aus einem Loch heraus,
schläft sich dann für immer aus.

Puppe hin und Puppe her,
manchem fällt das Leben schwer.
Tröste dich mein guter Mann,
jeder tut nur was er kann.

Ein paar Trippelschritte
und du bist schon in der Mitte,
fuchtelst etwas noch herum
und bist plötzlich stumm.

Ja, das war das ganze Leben,
wäre nicht Bewußtsein eben.
Das Bewußtsein aber faßt
unbegrenzten Lebens Last.

E. Hartwig, April 1961

Credo quia absurdum est

Poesie, Romantik, Suff,
Liebe, Herz und allerhand, -
so erträgt man diese Welt,
Weltverstand aus zweiter Hand.

Doch es gab und gibt noch Leute,
ehrlich, ruhig und verwegen.
Furchtlos wie die Sonne seh'n sie
jedem Gottgespenst entgegen.

Poesie und Glockenläuten,
Weihrauchduft und Opfergaben, -
Wirklichkeit scheint in der Kirche
mir der Teufel nur zu haben.

Schwindel auf der ganzen Linie,
Schwindel mit Trompetenschall, -
und der 'Sieg des Galiläers'
war Europas tiefster Fall.

E. Hartwig, 26. Juli 1961

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Ick sülvst !

Wer sich nicht selber sucht, der sucht umsonst !
Bleib bei dir selbst, lauf nicht dir selber fort !

Stell dich in Gegensatz zu allem anderen,
verbrüd're dich mit allem was da ist, -
gleichviel ! wenn du nur bei dir selber bleibst.

Denn wozu bist du in der Welt erschienen ?
Zu welchem Zweck formt sich das Element zu dir ?

Doch nicht, um eig'nes Wesen nicht zu achten !
Doch nicht, um fremden Geistern nachzulaufen !

Die Andern haben es mit sich zu tun
und helfen wirst du ihnen herzlich gern,
doch kann, was einer ist, kein Mensch ihm nehmen,
er würf'es denn, verleitet, selber weg.

So leb' aus deinem eignen Erb und Eigen !
Dein eigen sei wie die Natur dich schuf !

E. Hartwig, Juli 1961


Wir

Was ist am Ende von allem geblieben?
Nur der Wind, der wehende Wind,
Doch das seiende Sein, das weiß manche Dinge,
weil wir sind wie wir sind, was wir sind.

E. Hartwig 20.9.62

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"BESTEHT DAS GEBIRGE DES GEISTES

BESTEHT DAS GEBIRGE DES GEISTES
aus Papier ?
Jawohl ...
aber aus dieser magischen Verschlüsselung
steigen Realitäten und Erlebnisse
fest und farbig hervor,
welche Gegenwart und Zukunft
jetziger Existenz und Träumerei
vereinen
mit der ganzen traurigen und prächtigen Vergangenheit
welche scheintot schlummert
im Gebirge des Geistes
aus Papier.

E. Hartwig 10/62

"Inwendig in euch da ist Gott

Inwendig in euch da ist Gott.
Was heißt das, lieber Freund?
Anders durfte er's nicht sagen:
Er hat uns gemeint.

Macht euch keine Sorgen meint er,
denn die Herren Priester
sind, ich kenne einige,
ganz vertrackte Biester.

Glaubt an eure eigene Kraft,
glaubt an euer Leben.
Außer diesem Gott in euch
wird's nie einen geben.

E. Hartwig 1963

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Einsteigen !

Das große Glück !
Und ist doch nur ein Zeitvertreib.
Die Liebe groß !
und ist doch nur der Leib.

Ein bißchen später
und als alte Funzeln
stehen wir da
im Schmucke unsrer Runzeln.

Das große Glück !
und ist doch nur ein Zeitvertreib.
Wir fahren ab
und schon sind wir so weit -

Aussteigen !

Und zwischendurch
da wirft man eben
die Bälger
welche weiterleben.

Einsteigen !

E. Hartwig 1963

Puppenspiel

Von Mensch zu Mensch,
von Ort zu Ort
ein Puppenspiel bewegt sich fort.
Ganz ohne dies zu kennen
"Verlust" schrein sie, sie schrein "Gewinn",
sie rennen vor den Kadi hin.
Im Streite finden Mann und Weib
den allermeisten Zeitvertreib
Ich sehe das Bewegungsspiel
der Puppen in der Welt,
dass jeder Apfel, jeder Mensch
Ganz nah beim Stamme fällt.
Ich stelle der Natur anheim
die Chose wie sie ist
und bilde ihr Bewußtsein mir
vom Golde bis zum Mist.

E. Hartwig, 63/10

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Komische Liebe !

Will Liebe sein,
will doch das Geliebte
für sich allein.

Wahre Liebe
ist ohne Zweck,
nimmt dem Geliebten
Liebe nicht weg.

So viele
kassieren Liebe nur.
Liebe schenken ?
Keine Spur !

Wahre Liebe
hat dies nur im Sinn:
sich hinzugeben,
zu schenken sich hin.

E. Hartwig 1963

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Selbstgenügen

"Taten", so rufst du, doch Taten
Ruinen wie Schutt durch die Zeit.
Soll dir dein Leben geraten,
Sei auch zum Nichttun bereit.

Ruhmeskränze verwehen,
Hoffen und Sehnen verfliegt.
Habe die Gabe zu sehen
Was vor den Augen dir liegt.

Du bist dir selber gegeben,
So wie du bist, hier und jetzt,
Mittel zu eigenem Leben,
Das dir kein andres ersetzt.

Emil Hartwig - etwa 1965 -
(v650001g.txt)

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(in einem Buch als Buchzeichen gefunden)

Müller

Geboren werden, das steht fest,
gibt der Persönlichkeit den Rest.
Zwar merkt man es erst mit den Jahren,
dass man persönlich schlecht gefahren,
als man die Ewigkeit verließ
und - na, womöglich Müller hieß.

E. Hartwig (ca. 1965 vermutet)
(v65ca00g.txt)

Natur und Geist

Wir sind das Leben !
Wir sind die Welt !
Auf Menschen ist alles
Bewußtsein gestellt.

In Wirklichkeit dreht alles sich
um euch und uns, um dich und mich.
Wenn du's nicht glaubst, so sie zurück,
was spiegelt sich in deinem Blick?

Das Panorama, fern und nah,
nur in den Menschen ist es da!
Zwar sind wir selber gar nicht viel,
doch spielt die Welt in uns ihr Spiel.

Sie wüßte nichts von fern und nah,
sie wäre beinah gar nicht da,
Bewußtsein hat sie mit dem Leben
und nur in Menschen denkt sie eben.

Sie sieht sich selbst durch Menschenaugen,
sie singt sich selbst durch Menschen Mund.
Wir sind vom Geiste der Natur
an jedem Ort, zu jeder Stund

Und was wir auch an Stimmungen
in Herz und Busen hegen,
wir können uns in der Natur,
Natur in uns sich regen.

Sie fühlt in uns, wir fühlen sie,
wir haben keine Wahl.
Es überfällt uns Lust und Schmerz,
es überfällt uns Freud und Qual.

Natur! Ein Wort und ein Begriff,
doch alles ist Gefühl,
ist Liebe, Hassen, Glück und Leid
und ist, vielleicht, nur Spiel.

E. Hartwig, 24.1.65

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„Jedem das Seine!“

„Jedem das Seine!“
Wo bleibt da das Allgemeine?

Mein Freund, das Allgemeine ist
nichts andres, als du selber bist.

Es existiert nicht anders als
in Einzelheiten allenfalls.

Das Allgemeine kann sich nur probieren.
Pass auf! Es wird sich individualisieren.

E. H. 20.3.56
(v560320g.txt)

"Die Skala entlang

Die Skala entlang,
frohgemut oder bang,
durch Wiege und Grab,
geht es auf, geht es ab ....

Wen schert's, wen ficht es an?
Greis, Kind, Frau oder Mann - ,
alles ist ein - Konglomerat,
alles ist ein - Erlebnissalat ....

Herzlich, bäuchlich, leiblich sein?
Selenvoll oder geistig fein?
Gehupft wirds und gesprungen,
gepredigt, befohlen, gesungen ....

Es ist nicht anders:
grad ist's, krumm,
schön und häßlich,
klug ist's, dumm ....

Eines ist und bleibt es,
eines trieb und treibt es, -
lebt sich selber Stück für Stück,
auf und ab, hin und zurück ....

Bleibt im Vexierspiel von Raum und Zeit
sich näher als nah und weiter als weit.
Manchmal scheint es uns sehr viel,
das Alleine in seinem Spiel.

E. Hartwig April 1965

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Ich will

Ich sah den Gegner lange nicht
Obwohl ich Schlag um Schlag erhielt.
Jetzt riss ich ihm die Maske ab,
—  ich sah mich selber an.

Nun konnte ich nur eines tun:
dies 'Selber' halten fest;
es niemals wieder übersehn
und geben ihm den Rest.

Seitdem ich selbst mich hab erkannt
als meinen einz'gen Feind,
bin ich beruhigt in mir selbst,
bin mit mir selbst vereint.

E. Hartwig, 12.4.68
(v680412g.txt)

Morast und Sumpf

Morast und Sumpf
und schöne, schöne Blumen!
Das ist doch eins!
Das Schöne lebt davon.

So laßt ihn nur,
den schönen Sumpf der Welt.
Der Dreck läßt uns
gedeihen für und für.

E. Hartwig 1969/10

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