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Fr. W. Foerster schreibt 1923 in seinem Buch "Jugendseele, Jugendbewegung, Jugendziel", Zürich, 1925, S.34-39:

Im Vorwort des vorliegenden Buches wurde es als überaus bezeichnend erwähnt, dass die Wandervogelbewegung ihren Ausgangspunkt nahm in Steglitz bei Berlin, einer der trockensten märkischen Beamtenstädte, die man sich vorstellen kann. Harte biblische Korrektheit, patriotische Phrase, jugendfeindliche Oberlehrerdiktatur herrschten dort in einer Weise, dass auch der Verfasser dieses Buches in seinen Flegeljahren, während eines mehrwöchigen Aufenthaltes in Steglitz, der Hauptmann einer Räuberbande wurde, die missliebigen Autoritäten die Hölle heiß machte. Was in jenem engen Kreise in konzentrierter Weise zum Ausdruck kam, das war ein gewisses, im Rhythmus der äußeren Ordnung und Einheit erstarrtes Neudeutschtum, mit seinem täglich geübten "Parademarsch der Seele", mit seinem trockenen und unbedingten Gehorsam gegenüber Autoritäten - als einzige Entschädigung für alle diese Einengung und Entseelung gab es nur den stolzen Mitgenuss an dem lauten und machtvollen Kollektivauftreten des eigenen Volkes in der Welt, zu welchem Mitgenuss die Schüler schon in einem Alter herangezogen wurden, wo ihnen die sonstigen Genüsse der Erwachsenen noch streng versagt waren. "Bei jeder bedeutenden Gelegenheit," so schreibt H. Blüher in seiner Biographie des Wandervogels, "dem Geburtstage des Herrschers, dem Sedantage oder sonst einer Erinnerung, wurde der Ruhm des Vaterlandes verherrlicht. Da sprechen die Oberlehrer oder einer der angesehenen in endlosen Reden von Dingen, die weder sie noch die jüngere Hörerschaft erlebt hatte, aber ganz so, als ob sie dabeigewesen wären und mitgeholfen hätten. Dann betete man auch gelegentlich im Frack und mit zusammengeklappten Zylinderhüten. Und das alles trug dazu bei, der vornehmen Jugend ein gewisses Pathos anzuerziehen, das weit in Deutschland verbreitet ist. Es trug die kriegerische Tendenz und den Geist des Christentums mit großem Geschicke vereint in sich."

Man kann nur staunen, wenn man sich erinnert, mit welcher zentralisierten Kraft in dem pädagogischen System jener Generation der großen Erfolge alles zur Verherrlichung des "Cäsar" benutzt wurde: der humanistische Unterricht, Geschichte, Gesang, Turnen, Literatur, Religion: alles wirkte zusammen, um die Staatsautorität zu stützen und den Kultus des Vaterlandes anzufeuern - wobei aber nicht etwa eine wahre Liebe zum deutschen Volke und zum deutschen Wesen gefördert wurde, nein, ganz im Gegenteil, es wurde gerade das angebetet, was durchaus undeutsch war und was den Deutschen dem Geist seiner eigenen Geschichte und dem innersten Kern seines Wesens entfremdet hatte. Als nun noch der Militärstaat im Industriestaat aufging und ein seelenloses Streben nach wirtschaftlicher Macht sich aller der überlieferten Pflichttreue und aller technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften bemächtigte und den letzten Rest des alten tüchtigen Preußentums zersetzte, da begann langsam eine dumpfe Auflehnung in aller besseren Jugend zu gären, und es bedurfte nur eines Funkens, um die Prärie in Brand zu setzen. "Die Zeit, die den Wandervogel hervorbrachte," sagt Blüher (ebenda), "ist durch einen Kampf der Jugend gegen das Alter charakterisiert. Man mag hinsehen, wohin man wolle, selten, ja fast gar nicht will es gelingen, eine offene und restlose Einigkeit der Jugend mit dem Geschlecht der Väter zu erkennen.
..."

Man lese in Blühers Darstellung, ..., wie nun gerade in jenem Steglitzer Milieu, in dem all die geschilderten Übelstände besonders stark ausgewachsen waren, einige junge Leute aufstanden, um die Jugend aus der Gefangenschaft herauszuführen, ihr die Möglichkeit zu geben, ihr eigenes Leben zu leben, ihr Bedürfnis nach Romantik auszukosten und auf diesem Wege überhaupt sich geistig und seelisch von dem ganzen System zu befreien, das erdrückend auf ihr lastet. ...

Es war Karl Fischer, der schon Ende des vorigen Jahrhunderts mit einzelnen Kameraden in urwüchsiger Weise den Böhmer Wald bereiste und nach vorsichtiger Vorbereitung im Jahre 1904 [sic!]1) den Wandervogel gründete, ... - was Blüher von Fischers Persönlichkeit sagt, ist bezeichnend für den Geist, aus dem das Ganze herauswuchs und der im Allerinnersten nichts weniger als Vagabondage und moralische Auflösung bedeutete: "Durch seine Gegenwart bekam eine Gesellschaft junger Leute stets etwas Ernstes. Man wagte nicht, wenn er dabei war, Derbes oder gar Zotiges zu sagen. Fischer machte nie gemeine Witze, er kritisierte scharf und ließ nicht leicht jemandem ein unbedachtes Wort durchgehen. Er hatte eine herbe Keuschheit an sich, seine Züge waren männlich und hart; man konnte sich nicht gut denken, dass er hätte verliebt sein können. Es schien sich bei ihm alles auf die Energie des Wollens zu konzentrieren, es war, als ob er seinen Körper mit Knuten hätte peitschen können, wenn es ihm etwa einfallen würde, ihm den Dienst zu versagen und nicht mit jeder Faser das zu tun, was er beschlossen hätte." ...

... in ihm [dem Wandervogel] steckt eine geheime Kulturkraft, ... Der wahre Wandervogel sucht nicht etwa nur Erholung von der Schulluft, lebt nicht nur die Unruhe der Pubertät aus, genießt nicht nur die Natur, nein, er ist ein verkörperter geistiger Protest gegen ganz und gar ungeistige Lebensordnungen, er ist eine Erhebung des Lebens gegen den Tod, eine Auferstehung der Seele mitten im "Untergang des Abendlandes". Nur so ist das Beste zu verstehen, was sich aus dieser Jugend in die weitesten Kreise der jungen Generation ergossen hat und dort so viel ganz neues inneres Leben erweckt hat. 2)


1) Der Wandervogel wurde formell am 4. November 1901 als "Ausschuss für Schülerfahrten" gegründet.

Fußnote S. 38:
Als Karl Fischer 1920 aus japanischer Kriegsgefangenschaft heimkehrte, begrüßte ihn das den Heimkehrenden gewidmete Heft des Wandervogel, 5. Heft 1920, folgendermaßen: "Karl Fischer, der du unser Sehnen, unsere Träume und unsere himmelstürmende Begeisterung verstandest, der du uns die Gestaltung unseres jugendlich brausenden Lebens zeigtest, der du uns Führer wurdest, wir lieben dich und stehen zu dir mit ganzem Herzen, wir grüßen dich!"

Fußnote S. 39:

2) Im Wandervogel, 5/6. Jahrgang 1917, schreibt ein Kritiker: "Tätige Menschen wollen wir und keine Träumer." Darauf antwortet K. Fischer: "Dem werfe ich entgegen: dass ein Traum hie und da mehr Tat ist als 150 jährliche Fahrtentage, denn ein Traum kann die Vorstufe einer Idee sein, und erst sie gebiert die Tat." Das ist wahres Deutschtum und sei allen Materialisten der sogenannten "Tat" ins Stammbuch geschrieben. Und die Amerikaner seien an ein amerikanisches Wort erinnert: "We need seers and doers." Beide Typen sind gleich notwendig, aber der erste muss dem zweiten vorangehen!


Blühers Schriften, auf die sich Foerster hier bezieht, darf man nicht als Faktendarstellungen nehmen, sondern überwiegend als Literatur. Das stellte schon Hermann Hoffmann 1918 in Haifa gegenüber Willhelm Riegger fest: „Zu wenig Chronik, zu viel Dichtung”. (Georg Korth, »Wandervogel 1896-1906«, dipa-Verlag Frnkft/M., S.35/36)

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